Migrationsbezogene Konflikte als Herausforderung und Chance für institutionellen Wandel in groß- und kleinstädtischen Kontexten
Das Projekt
Als Orte sozialer Differenz sind Städte und Quartiere immer wieder Austragungsorte von Konflikten. Im Kontext einer sich dynamisch entwickelnden Zuwanderung von heterogenen Bevölkerungsgruppen sind Städte zunehmend mit neuen Spannungsmomenten konfrontiert. Diese Konflikte begreifen wir als konstitutives Moment sozialen Wandels und somit als Chance für Lernprozesse und institutionellen Wandel. Das Projekt MigraChance untersuchte daher migrationsbezogene Konflikte im Zusammenhang mit dem Wandel von lokalen Institutionen.
Ziele
Das Ziel des Forschungsprojektes war es, in einem ersten Schritt die Wirkung von migrationsbezogenen Konflikten auf (sub)lokale Institutionen retrospektiv und in unterschiedlichen räumlichen Kontexten zu analysieren. Im zweiten Schritt wurden Möglichkeiten der Konfliktaustragung erkundet und gemeinsam mit Kommunen erprobt. Es sollten Umgangsformen erarbeitet werden, mit denen Konflikte gezielt für Lern- und Transformationsprozesse genutzt werden können und somit gesellschaftliche Teilhabe gefördert und demokratische Prozesse unterstützt werden.
Fallstudien & Praxisphasen
Fallstudien & Praxisphasen
Die Projektarbeit in den drei Fallstudien Bebra, Leipzig und Gelsenkirchen gliederte sich in zwei Teilbereiche. Der erste Teil beinhaltete eine retrospetive Analyse vergangener Konflikte mit Migrationsbezug sowie deren Wirkungen auf lokale Institutionen. Der zweite Teil hatte zum Ziel, neue Umgangformen mit aktuellen Konflikten zusammen mit lokalen Akteur:innen aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu erproben. Die Berichte zu den empirischen Befunden des ersten Teils sind in den drei Projektberichten auf dieser Homepage unter der Rubrik Publiktionen zu finden und stehen dort auch zum Dowmload bereit. Der zweite Teil des Vorhabens fiel mit einem geplanten Beginn im Mai 2020 in die Zeit der Corona-Pandemie. Die Praxisphasen konnten unter den gegebenen Umständen nicht wie geplant in den Kommunen als Experimente stattfinden. Stattdessen haben wir uns mehrheitlich auf digitale Experimente eingelassen, deren Resulat nicht nur innovative Formate des Austausches hervorgebracht haben, sondern es vor allem überhaupt ermöglichten in dieser Zeit miteinander über konflikthafte Themen in Austausch zu bleiben. Mehr zu den Praxisphasen finden Sie am Ende der Beschreibung der einzelnen Fallstudien auf dieser Seite.
Die Stadt Bebra weist eine langjährige Migrationserfahrung auf, die historisch auf die Tradition Bebras als Bahnknotenpunkt zurückgeht. Im Blick ist für das Projekt vor allem das sich wandelnde Quartier „Göttinger Bogen“, eine Zeilenbausiedlung der 1950er/60er Jahre mit traditionell hohem Anteil von Migrant:innen. Bebra hat ein insgesamt neubürgerfreundliches Image und aufgeschlossene Akteure in Politik und Verwaltung. Es sind etablierte und engagierte Kulturvereine vorhanden – Türkisch-islamischer Kultur-verein e.V. und syrisch-aramäische, orthodoxe Kirchengemeinde e.V. – die einen signifikanten Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund vertreten. Hier werden die spezifischen institutionellen Bedingungen und Netzwerke einer Kleinstadt untersucht, die Emergenz von Konflikten in einer Kleinstadt sowie institutionelle Reaktionen darauf. Der erste Teil des Projekts beantwortet die Frage, welche institutionellen Arrangements sich bewährt haben und welche Schwachstellen zu identifizieren sind, für die wiederum neue Ansätze konzipiert und umgesetzt werden.
Praxisphase Bebra - Integrationskommissionen als neue Instrumente der Teilhabe?
Den Hintergrund für die Praxisphase in Bebra bildete eine Gesetzesänderung auf Landesebene, das Gesetz „zur Verbesserung der politischen Beteiligung von ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern an der Kommunalpolitik sowie zur Änderung kommunal- und wahlrechtlicher Vorschriften“ in Hessen. Unter Punkt 20 wurde § 84 folgender Satz hinzugefügt: „Die Verpflichtung zur Einrichtung eines Ausländerbeirates entfällt, wenn eine Kommission zur Integration der ausländischen Einwohner [sic!] (Integrations-Kommission) nach Maßgabe § 89 gebildet wird“. Weitere Ausführungen zu den rechtlichen Grundlagen sind u.a. beim Landesausländerbeirat Hessen zu finden (www.agah-hessen.de/auslaenderbeiraete/rechtliche-grundlagen/). Ziel der Praxisphase war es, diesen migrationsbezogenen institutionellen Wandel auf lokaler Ebene zu begleiten und zu erfahren, welche Konflikte mit der Einrichtung von Integrationskommissionen einhergingen oder vermieden werden sollten.
Auf Landesebene war ein Konflikt schnell erkennbar: Der Landesausländerbeirat (AGAH) positionierte sich deutlich gegen das Optionsmodell und betonte die Bedeutung der Urwahl für die demokratische Teilhabe, weshalb die Ausländerbeiratswahlen wichtig wären. Diese Wahl entfällt bei den Integrationskommissionen, sodass gefragt werden kann, ob die Integrationskommissionen am Ende einen demokratischen Rückschritt in der Beteiligung von Migrant:innen darstellte. Die Diskussion auf Landesebene brachte noch eine weitere Dimension ins Spiel; nämlich eine räumliche. Vor allem die Großstädte hielten an den Ausländerbeiräten fest. Wie aber würden sich Klein- und Mittelstädte dazu positionieren? Aus Bebra wussten wir, dass die Integrationskommission als gute Option angesehen wurde, um frischen Wind in die Verwaltung zu bringen. Wir fragten uns: Teilten andere Kleinstädte eher die Sorge des Landesausländerbeirates? Befürchteten sie den Versuch der Absetzung konfliktaffiner Ausländerbeiräte zugunsten einer Integrationskommission, die von der/ dem Bürgermeister:in geleitet wurde? Was sprach für und was gegen einen Ausländerbeirat bzw. die Integrationskommission?
In drei Online-Workshops haben wir zur Diskussion eingeladen: im November 2020 besprachen wir die Vor- und Nachteile der Gremien mit Vertreter:innen hessischer Klein- und Mittelstädte. Dazu haben wir vier Impulse gehört: Der Vorsitzende des Landesausländerbeirates, Enis Gülegen, hob die Vorteile des Ausländerbeirates hervor und wog sie mit den Nachteilen der Integrationskommission ab; Frau Staatsministerin Janz vom Ministerium für Soziales und Integration hatte die Beweggründe für das Optionsmodell verlauten lassen; wir lernten eine kleinstädtische Perspektive kennen, warum man sich dafür entschieden hat den Ausländerbeirat trotz schwieriger Erfahrungen zu behalten. Aus Bebra erfuhren wir, warum die Entscheidung für die Integrationskommission schnell gefallen war. Aus dem Workshop gingen vor allem ungeklärte Fragen zu „Möglichkeiten der lokalen Ausgestaltung der Integrationskommissionen“ hervor und der Wunsch diese nochmal im Kreis der Städte unter Anwesenheit von antwortfähigen Vertreter:innen aus den dazugehörigen Ministerien zu besprechen.
Im Februar 2021 wurde bekannt, dass 86 hessische Kommunen einen Ausländerbeirat wählen und 87 eine Integrationskommission einsetzen würden (ein Großteil davon Klein- und Mittelstädte). Mit etwa 30 Teilnehmenden sprachen wir darüber, wie sie die Integrationskommission vor Ort umsetzen würden. Ihre offenen Fragen stellten die Grundlage der Veranstaltung dar. Mit dabei war Reinhold Zemke, Planungsrechtler der Fachhochschule Erfurt; Johannes Heger, Geschäftsführer des Hessischen Städte- und Gemeindebundes (HSGB); sowie Hanns-Achim Michna, Landesausländerbeauftragter im hessischen Sozialministerium. Nur sehr wenige Vertreter:nnen aus der (migrantischen) Zivilgesellschaft konnten für die Teilnahme gewonnen werden, sodass die Frage nicht geklärt werden konnte, wie sich die Mitglieder die zukünftige Arbeit in den Kommissionen vorstellen und welche Ziele sie damit verbinden. Viele der zukünftigen migrantischen Mitglieder der Kommissionen werden sich ehrenamtlich engagieren, weshalb eine Teilnahme an tagsüber stattfindenden Veranstaltungen nicht immer leicht umsetzbar ist. Das erklärt die Anwesenheit vieler hauptamtlich Beschäftigter und weniger zivilgesellschaftlich organisierter Akteure. Auch blieb offen, welche Formen der Vernetzung von Kommunen bezüglich der Integrationskommissionen möglich und gewünscht sind.
Den Fokus der Praxisphase bildete die Begleitung eines institutionellen Wandels. Neu an unserer Herangehensweise ist dabei gewesen, dass wir das Gespräch darüber, wie die lokale Ausgestaltung von Integrationskommissionen aussehen kann, für alle hessischen Klein- und Mittelstädte geöffnet haben. Über deren Perspektive in der Auseinandersetzung ist bisher kaum etwas bekannt. Schwieriger war es, Konflikte zu thematisieren oder gar zu bearbeiten. Obwohl der Ausländerbeirat und auch die Integrationskommission durchaus als streitbare politische Gremien gedacht sind, wurde wenig über aktuelle oder vergangene Konflikte berichtet, die die politische Teilhabe von Migrant:innen betreffen. Deutlich wurden zwei Perspektiven, die den aktuellen Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen beider Gremien in Hessen prägen. Einige Teilnehmer:innen betonten, dass es keine städtischen Themen gibt, die Migrant:innen nicht betreffen würden. Insofern sei weder die Kommission noch der Beirat der richtige Weg. Das Kommunalwahlrecht für alle würde diese Gremien grundsätzlich überflüssig machen. Andere hoben hervor, dass Rassismus und Diskriminierung im Zentrum der Arbeit stehen sollten. Wir werden die Fragen der (konflikthaften) Arbeitsschwerpunkte in dem dritten, vorerst abschließenden, Workshop im November 2021 in der Runde der Klein- und Mittelstädte weiter thematisieren, wenn die ersten konstituierenden Sitzungen der Integrationskommission stattgefunden haben und die inhaltliche Arbeit aufgenommen werden kann.
Leipzig repräsentiert eine über lange Zeit von Schrumpfung betroffene, seit 2010 wieder dynamisch wachsende ostdeutsche Großstadt mit einem wachsenden Anteil migrantischer Bevölkerung. Im Projekt soll der Schwerpunkt auf dem Stadtteil Schönefeld liegen, einem Quartier, welches durch Abwanderung, Alterung, Leerstand in den 1990er Jahren gekennzeichnet war und sich nunmehr stabilisiert, nicht zuletzt durch die Zuwanderung von Haushalten mit Migrationshintergrund. Schönefeld erlebte einen exemplarischen Konflikt um die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft im Jahr 2014: Durch die Unterbringung von Geflüchteten (in einer leeren Schule) entstand eine akute Problemsituation, welche eine Fülle neuer Akteure (Initiativen, Vereine, Netzwerke) hervorbrachte (z.B. „Leipzig steht auf“ gegen die Unterbringung und „Leipzig nimmt Platz“ dafür). Schönefeld als Quartier ist insgesamt mehr in den Fokus der Stadtpolitik gerückt, auch im Hinblick auf Inklusion und Integration. Es besteht großes Kooperationsinteresse der Praxispartner an gemeinsamen Projekten.
Praxisphase Leipzig - Miteinander unterwegs. Dialoge zu Konflikten des öffentlichen Raums im Leipziger Osten
Die Zielstellungen, die wir für die Praxisphase am Standort Leipzig bestimmt hatten, umfassten (A) ein besseres Verständnis von Konflikten auf Stadtteilebene, (B) einen gemeinsamen Diskussions- und Reflexionsprozess mit erfahrenen Akteur:innen vor Ort und (C) Überlegungen dazu, wie Konflikte gegebenenfalls anders verhandelt und so transformiert werden können.
Für das Erreichen des ersten Ziels (A) haben wir uns eine Serie von (Online-)Workshops durchgeführt, die den öffentlichen Raum als Konfliktraum in einigen Wohnquartieren mit einer heterogenen Bevölkerung und einem hohen bzw. wachsenden Anteil migrantischer Bewohner:innen analysieren und diskutieren sollten. Da der Beginn der Praxisphase mit den Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie zusammenfiel, mussten wir diesen Ansatz schließlich auf einen Stadtteil, den Leipziger Osten, begrenzen, wo bereits gute Kontakte bestanden und die Zusammenarbeit mit lokalen Akteur:innen auf dieser Basis aufbauen konnte. Die geplanten Workshops mussten digital durchgeführt werden. Sie wurden in Kooperation mit dem Quartiersmanagement Leipziger Osten (www.leipziger-osten.de) vorbereitet, wobei – im Sinne der zweiten Zielstellung (B) – verschiedene lokale Akteur*innen (aus Verwaltung, Zivilgesellschaft sowie der Polizei) eingeladen waren. Der erste Workshop fand im Dezember 2020 statt, er hatte den Titel Gemeinsam Unterwegs. Umgang mit Nutzungskonflikten im Straßenraum – am Beispiel der Eisenbahnstraße und widmete sich der systematischen Aufnahme der Vielfältigkeit von Konflikten im öffentlichen Raum. Dargestellt und ausgiebig diskutiert wurden darin die Hintergründe und komplexen Zusammenhänge der lokalen Konflikte.
Ein zweiter Workshop im Februar 2021, mit dem Titel Recht des Stärkeren oder gegenseitiger Respekt? – Miteinander im Straßenraum, schon inhaltlich direkt daran an und konzentrierte sich auf Machtunterschiede zwischen verschiedenen Gruppen und deren Umgang. Bei der Diskussion, aber auch in der Nachbereitung und Reflexion beider Workshops wurde eine sehr heterogene, zum Teil divergierende Interessenlandschaft deutlich, aber auch, dass in der Bearbeitung einiger Konflikte bis dato manche Minderheiten zu wenig Berücksichtigung finden.
Vor diesem Hintergrund wurde – im Sinne der dritten Zielstellung (C) – mit dem Quartiersmanagement überlegt, auf welchem Wege man auf Stadtteilebene für einer Stärkung des Gemeinsamen Miteinanders aller intervenieren kann. Zwei Ansätze wurden schließlich ausgewählt, die auch über die Projektlaufzeit von MigraChance von lokalen Akteur:innen weiterverfolgt werden können: So wurde einerseits mit der Leipziger Stadtverwaltung eine Veranstaltung organisiert, die sich der Sensibilisierung für eine gendergerechte Stadtplanung widmen soll. Sie findet im November 2021 statt und stellt den Austausch von Forschungsergebnissen und Praxiserfahrungen zur Ungleichbehandlungen verschiedenen Gruppeninteressen ins Zentrum. Dabei sollen auch Möglichkeiten einer Verbesserung durch eine veränderte Stadtplanung diskutiert werden. Andererseits wurde überlegt, einer offenen Debatte über das Miteinander im Stadtteil mehr Raum zu geben. Als erster Impuls in diesem Sinne wurde beim Treffen „Netzwerk Nachbarschaft und Kultur“ im Oktober 2021 der Ansatz der Städtecharta anhand von zwei Beispielen (aus Wien, Schwäbisch-Gmünd) vorgestellt, wobei deren Inhalte und Methodik illustriert wurden. Die anschließende Diskussion unter Akteur:innen des Leipziger Ostens machte deutlich, dass tatsächlich Interesse an einem solchen Austausch vor Ort besteht, wenngleich nächste Schritte und mögliche Ergebnisse eines solchen Debatte zu verhandeln sind. Das Leipziger Team von MigraChance wird diesen Austausch bis zum Ende der Projektlaufzeit weiter verfolgen.
Die bisherigen Workshops, aber auch deren Nach- und Vorbereitungssitzungen mit lokalen Partner:innen, gaben v.a. Einblicke in die Diversität sozialer Konflikte im öffentlichen Raum, aber auch zu spezifischen Bedingungen in Leipzig und konkreten Umgangsweisen damit in Stadtquartieren. Ein wesentlicher Beitrag besagter Workshops war zudem, dass stadtteilbezogene Akteur:innen mit den Forscher:innen des Projekts MigraChance ins Gespräch kamen, was lokal neue Möglichkeiten der Vernetzung erschloss. Neben dem Transfer von Forschungsergebnissen in lokale Kontexte, kamen dabei auch reziproke Effekte zustande, wodurch für die Konfliktforschung zahlreiche Einblicke in Umgang und Wahrnehmung lokaler Konflikte von Seiten der Praxis gewonnen werden konnten. Damit wurde auch dem im Projekt MigraChance angelegten transdisziplinären Ansatz Rechnung getragen und eine Verstetigung der Ergebnisse über den Projektkontext hinaus eingeleitet.
Gelsenkirchen repräsentiert eine postindustrielle Stadt im Ruhrgebiet. Die lange Zeit schrumpfende Stadt wuchs im letzten Jahr temporär insbesondere durch Asylbewerber:innen sowie durch EU-Ausländer:innen aus Osteuropa. Für das Projekt sollte der Fokus auf dem besonders von Zuwanderung betroffenen Stadtbezirk Gelsenkirchen Süd liegen, wo die Arbeitslosigkeit bei rund 28% liegt, darunter eine hohe Zahl an Langzeitarbeitslosen. Hieraus entwickeln sich neue Konfliktpotentiale. Als Akteur:innen stehen neben der Verwaltung kirchliche Träger, Arbeiterwohlfahrt (AWO), Nachbarschaftsvereine und organisierte Migrantenvereine im Vordergrund. Unter der Trägerschaft der Wohlfahrtsverbände bestehen zum Teil Stadtteilbüros, Quartiers- und Stadtteilläden.
Praxisphase Gelsenkirchen - Analyse von Akteur:innen, Netzwerken und Institutionen im Bereich Migration
Den Brückenschlag zwischen Forschungs- und Praxisphase in Gelsenkirchen markiert ein gemeinsam mit den Praxispartner:innen initiierter Workshop. Gesetztes Ziel war es, die Ergebnisse zur institutionellen Entwicklung der Stadt im Zuge der beiden ‚herausgelösten‘ migrationsbezogenen Konflikte – Konstituierung des Ausländerbeirats in den 1970er Jahren und rund um die gegenwärtig noch anhaltende Zuwanderung aus Südosteuropa – für gegenwärtige Konflikte produktiv werden zu lassen: also das den bestehenden gesellschaftlichen Konflikten eigene institutionelle Veränderungspotential zu erkennen und die diesen Konflikten quasi ohnehin innewohnende[n] institutionelle[n] Möglichkeit[en] und vielleicht Notwendigkeit[en] als innovative Implementationen im besten Fall ‚vorwegzunehmen‘.
Da sich gezeigt hat, dass die Konflikte oder vielmehr die Konfliktherde um die Zu-wanderung aus Südosteuropa für Alteigesessene, angesprochen auf empfundene Spannungen in der Stadtgesellschaft, nach wie vor einen salienten Reiz darstellen, haben wir uns dafür entschieden, für den zweiten Teil unseres Forschungsprojektes ebenjenes Konfliktfeld weiter im Blick zu behalten. Nicht zuerst weil diese Kon-fliktherde nicht schon zahlreiche institutionelle Neuerungen hervorgebracht hätten (was sie haben!), sondern vor allem weil die sich in diesem Zusammenhang erge-benden Herausforderungen für die Stadt durch die anhaltende Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht für bewältigt oder abgeschlossen erklärt werden können: Gibt es vor dem Hintergrund der angestellten Konflikttheorie noch institutionelle Leerstellen? Erfüllen die bereits eingesetzten Institutionen ihren Zweck? – und auch dann, wenn die Zuwanderung nach Gelsen-kirchen im Rahmen der EU-Freizügigkeit weiter anhält? Wie resilient sind sie im Allgemeinen und wie passen sie sich ins Institutionengefüge ein?
Beginnend mit einer umfassenden Akteursanalyse, im Rahmen derer neben narrati-ven Interviews, auch ein Social-Media-Screening, teilnehmende Beobachtungen ebenso wie eine intensive Dokumentenrecherche durchgeführt wurden, galt es, einen ersten Überblick über die unterschiedlichen Institutionen und Akteure und ihre jeweiligen Tätigkeiten im Kontext der Zuwanderung aus Südosteuropa zu gewinnen. Schnell hat sich dabei die enorme Bedeutung der Wohlfahrtsorganisationen herausgestellt. Der tragenden Rolle, die den fünf großen Wohlfahrtsorganisationen in Gelsenkirchen generell und noch verstärkt in Fragen und Aufgaben der (osteuropäischen) Zuwanderung zukommt, ist mit Blick auf ‚gelingende Inklusion‘ aber ein nicht unwesentliches Chance-Risiko-Verhältnis eigen: So hat sich gezeigt, dass die Mitarbeitenden, ehren- wie hauptamtlich, nicht nur der Selbstbezeichnung nach „Brückenbauer“, „Mittler“, „Mediatoren“, „Berater“, „Anwälte“ und „Repräsentanten“ sind. Sie sind in Gelsenkirchen das Dreh-Kipp-Scharnier, das zwischen dem vermeintlichen Innen und Außen, zwischen Eingesessenen und Neuzugewanderten (horizontal), zwischen Verwaltung wie Politik und weitgehend Stimmrechtslosen (vertikal) Vermittlung herstellt. Diese zwar nicht ganz unfreiwillige, aber Atlas’sche Rolle der Wohlfahrtsverbände in Gelsenkirchen, was die strenge Assoziation zeigt, sich in Fragen der Zuwanderung sowohl seitens der Stadt als auch seitens alter wie neuer Einwohner:innen namentlich an AWO, Caritas, Diakonie, DRK oder Paritätischer Wohlfahrtsverband zu wenden, birgt zugleich ein doppeltes Risiko: Zum einen besteht die Gefahr, einer institutionellen Pfadabhängigkeit anheimzufallen, d.h. Kreativität im Umgang mit migrationsbezogenen Konflikten zugunsten der eben altbewährten institutionellen Gangart einzubüßen und damit dem Zweck nach ‚bessere‘ Lösungen aus dem Möglichkeitsraum zu verschieben. Zum anderen gefährdet es die demokratische Balance zwischen Repräsentation und Partizipation im Institutionengefüge, sofern der Bedeutungszuwachs jener notwendigen Vermittler umschlägt in eine weitreichende Bedeutungslosigkeit direkter Kommunikation und Partizipation und damit dem Wortsinn nach echter Inklusion, dem Einschluss, dem sozialen Ganzen, der tatsächlichen Verbindung zwischen genanntem Innen und Außen nicht nur entgegensteht, sondern es verfestigt – nicht zuletzt ist das Bestehen solcher Gegensätzlichkeiten schließlich auch Grundbedingung jeden Vermitteln-Wollens.
Diesen Gedanken zum Anlass genommen, haben wir uns im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses dem Partizipationsverhalten von Migrant:innen in Gelsenkir-chen zugewandt und dabei vor allem den Einfluss und die Wahrnehmung des Integ-rationsrates in Gelsenkirchen im Vergleich zu anderen Städten in NRW, angereichert durch quantitative Umfragen und die Untersuchung der formalen und faktischen Ausgestaltung, in den Brennstrahl der Analyse gerückt. Erste Befunde weisen dabei deutlich darauf hin, dass sich der Einfluss des Integrationsrates in Gelsenkirchen – mehr als in anderen Städten – im Wesentlichen in seiner symbolischen Funktion aufhebt, was gerade im Hinblick auf den vergleichsweise hohen Anteil Nicht-Wahlberechtigter an der gesamtstädtischen Bevölkerung aus demokratietheoretischer Perspektive einen Mangel darstellt. Im weiteren Verlauf gilt es, so geartete Befunde in praktische institutionelle Empfehlungen für die Stadt mit dem erklärten Ziel eines möglichst nachhaltigen produktiven Umgangs mit migrationsbezogenen Konflikten zu übersetzen.
Von Mai 2018 bis September 2021 wurde zudem durch die Fachhochschule Erfurt die Partnerstudie „Konflikte im Ehrenamt als Potenzial für demokratische Lernprozesse“ in der sächsischen Mittelstadt Bautzen durchgeführt. Die Wissenschaftler:innen der Fachhochschule Erfurt veröffentlichten ihre Ergebnisse zu gesellschaftlichen Konflikten und gesellschaftlichem Zusammenhalt in Kommunen auf der Website https://im-gespraech-mit-bautzen.de/.
Wie wichtig es ist, im Gespräch zu bleiben, wird immer dann betont, wenn Span- nungen den Zusammenhalt bedrohen. Die aktive Zivilgesellschaft in Sachsen und anderswo investiert viel ehrenamtliches Engagement in diesen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft und erlebte unterschiedliche Konflikte. Eine Forschungsgruppe der Fachhochschule Erfurt hat in dem Forschungsprojekt „Konflikte im Ehrenamt als Potenzial für demokratische Lernprozesse“ zwischen 2019 und 2021 über 70 Inter- views mit Bautzenerinnen und Bautzenern aus den Bereichen Ehrenamt, Verwal- tung und lokaler Politik geführt.
Das Forschungsteam untersuchte soziale Konflikte, die sich zunächst am Umgang mit der vermehrten Zuwanderung Geflüchteter ab 2015 entzündet hatten. Seit 2019 hat der Zuzug abgenommen und die Gesellschaft reibt sich u.a. an den Maß- nahmen zur Eindämmung der Covid19-Pandemie. Die gewonnenen Erkenntnisse stehen beispielhaft für viele andere Kommunen, die sich mit ähnlichen Situationen konfrontiert sahen.
Die Webseite www.im-gespraech-mit-bautzen.de dokumentiert diese Erfahrungen, hält Ergebnisse fest und gibt für andere Städte und zukünftige Ereignisse Anregun- gen für den Umgang mit Konflikten. Sie richtet sich vorrangig an Ehrenamtliche und die aktive Zivilgesellschaft, sowie Menschen aus Wissenschaft und Politik, die in ihrer Arbeit mit sozialen Konflikten und Polarisierung konfrontiert sind.
Westfälische Wilhelms Universität Münster (WWU), Institut für Politikwissenschaft: Prof. Dr. Norbert Kersting und Christoph Kenkel (Ehemalige MitarbeiterInnen: Sina Resch und Cornelius Knab)
Projektförderung
Projektförderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Förderkennzeichen:01UM1817AY
Projektträger: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) Projektlaufzeit:05.2018 – 10.2021
Kontakt
Kontakt
Prof. Dr. Katrin Großmann
Fachbereich Stadt- und Raumsoziologie
Fakultät Architektur und Stadtplanung